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Gedanken nach einem Vater-Tochter-Wochenende in Paris

Letzte Woche war ich von Donnerstag bis Sonntagabend mit meinem Vater in Paris. Es war eine emotionale Reise, denn zum einen war es mein Geschenk an ihn, an uns beide zu seinem 80. Geburtstag,  zum anderen war er zum ersten Mal in Paris und es war unsere erste gemeinsame Reise allein.

 

Ich habe Französisch studiert, liebe diese Stadt, die Sprache, das Essen, die Kunst und Kultur, einfach alles dort. Unzählige Male habe ich Paris besucht und einige Jahre war ich beruflich eng mit Frankreich verbunden.

Paris Premiere für Papa

Mein Vater war noch nie in Paris, obwohl er seit seiner frühen Jugend von Frankreich schwärmt. Von der Musik von Charles Aznavour, Johnny Hallyday, Sylvie Vartan und vielen anderen. Er liebt den französischen Fußball und den französischen Film. Aber er war noch nie in Paris und er hatte sich damit abgefunden nie hinzufahren. Während meine Eltern dafür sorgten, dass ich bereits als Teenager zum ersten Mal nach Paris fahren konnte und danach zahlreiche Reisen in die französische Hauptstadt unternahm,  haben sie sich immer hintenangestellt.

 

Als kleines Mädchen freute ich mich Samstagabends länger aufzubleiben, um mit Papa einen Film zu schauen. Meine Mutter und meine Schwestern gingen nach der Samstagabend Familienshow meistens schlafen, ich aber wartete ungeduldig auf das Ende der Sportschau, der Ziehung der Lottozahlen und des christlichen Worts zum Sonntag, um anschließend entweder einen John Wayne Western Klassiker mit Papa zu schauen oder einen französischen Film mit Jean Gabin, Yves Montand, Jean Paul Belmondo oder Alain Delon oder einen Maigret Krimi nach den Romanen von Georges Simenon. Häufig waren es spannende schwarz-weiß Filme und Papa kannte alle Schauspieler.

 

Lange hatte ich überlegt, womit ich ihm zum runden Geburtstag eine Freude machen könnte. Ich entschied uns ein gemeinsames Erlebnis zu schenken und wählte Paris.

Bonjour Paris

Er hatte mir im Vorfeld gesagt, was  er unbedingt sehen wollte und ich habe daraus unsere Routen zusammengestellt und ergänzt mit all dem, was ich ihm darüber hinaus zeigen wollte. Er ist fit für sein Alter und läuft auch lange Strecken sehr gerne, nur das rechte Knie meldet sich in letzter Zeit ab und an mit Schmerzen. Ich nahm Rücksicht, ohne es ihn spüren zu lassen und überlegte wie wir am besten die Stadt erkunden sollten, ohne sein Knie zu überstrapazieren.

 

Gleich am ersten Tag sind wir auf seinen Wunsch hin zum Montmartre gelaufen. Zum ersten Mal wollte ich die Seilbahn zur Basilika Sacré Coeur nehmen, weil es sein Knie schonen würde. Obwohl ich bereits mehrmals dort war, wusste ich nicht, dass es eine Seilbahn gab. In Zagreb gibt es ebenfalls eine Seilbahn, die zur Altstadt, die bei uns die Oberstadt ist, führt und mein Vater fährt ab und zu gerne damit. Also ging ich davon aus, er würde sich freuen.

 

Montmartre ohne Sacré Coeur?
Quelle catastrophe!

Als wir bei der Funiculaire angekommen waren, sagte mein Vater: Was für eine lange Schlange, ich stelle mich hier auf keinen Fall an! Das klang resolut und ich versuchte gar nicht erst ihn umzustimmen. Ok, die Alternative ist die Treppe zu nehmen, gefällt dir das besser? Nein, das mache ich auch nicht. Möchtest du Sacrè Coeur nicht sehen? Ich sehe es doch von hier, das ist ok für mich.

 

In diesem Moment wusste ich nicht, was ich dazu sagen sollte. Er hatte sich gewünscht zum Montmartre zu gehen und war bereit auf Sacre Coeur zu verzichten? Ich entschied, es zunächst einmal dabei zu belassen und schlug ihm vor essen zu gehen. Nach einem köstlichen Menü begleitet von einem sehr guten St. Emilion, wagte ich einen zweiten, dieses Mal etwas raffinierteren, Vorstoß und fragte ich ihn, ob er noch einen Spaziergang machen wolle. Auf jeden Fall, antwortete er.

 

So hakte ich mich ein und während einer angeregten Unterhaltung über das wunderbare Abendessen lief ich „unauffällig“ mit ihm hoch zu Sacré Coeur. Als wir oben ankamen, war er überrascht und begeistert gleichermaßen. Mir fiel ein Stein vom Herzen, dass wir Montmartre nicht verlassen hatten, ohne, dass er  Sacrè Coeur gesehen hatte. Da bin ich wohl einen Umweg von mindestens 2 Km gelaufen, lachte er über sich selbst, aber es hat sich wirklich gelohnt und mein Knie tut mir überhaupt nicht weh.

Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?

Zu meiner Überraschung folgten in den nächsten Tagen ähnliche Erlebnisse. In der Galerie Lafayette wollte er nicht hochfahren. Ich sehe doch die Kuppel von hier, sagte er. Wieder überzeugte ich ihn sanft in den Fahrstuhl zu steigen, zu dem ich ihn gelotst hatte. Als wir dann in der 6. Etage endlich die Außenterrasse bei schönstem Sonnenschein betraten, freute er sich über den grandiosen Ausblick und die Sicht auf den Eifelturm riesig. Ich jubelte innerlich!

 

Als wir am letzten Tag mit unseren Trolleys durch Paris bummelten, ich herrlich entspannt ohne festes Programm, er ständig fragend, wo ich denn nun hin möchte mit dem Koffer, sagte ich, dass ich ihm noch einen sehr schönen Platz zeigen wollte. Die schönsten Plätze haben wir doch schon gesehen, antwortete er ungeduldig und etwas hilflos. Während es für mich nichts Außergewöhnliches war mit einem kleinen Koffer auf Rollen durch Paris zu laufen, war es für den Autofahrer, der noch nie geflogen war und 1969 zum letzten Mal mit dem Zug gefahren ist, eine herausfordernde Ausnahmesituation.

 

Dieses Mal  ignorierte ich seine Aussage und bummelte lächelnd weiter. Als wir die Place Vendôme erreichten, schaute er mich an und sagte, danke, dass du mich hierher gebracht hast, nicht auszudenken, wenn ich diesen schönen Platz nicht gesehen hätte. Ich war sicher, dass ihm dieser Platz gefallen würde.

 

Willst du nicht jemand fragen, ob wir richtig laufen, fragte mein Vater auch ab und zu. Vertraute er mir nicht? Ich bin ziemlich sicher, dass wir richtig laufen Papa, ich war schon häufig in Paris. Ich meine nur, um sicher zu sein, wiederholte er seine Bedenken. Was passiert, wenn wir uns ein wenig verlaufen, lachte ich, vielleicht entdecken wir dabei etwas Wundervolles, etwas was wir noch nicht kennen? So hatte ich einige Jahre zuvor die St. Sulpice Kirche in St. Germain de Près entdeckt. Er war nicht überzeugt von meinem Vorschlag, eher erleichtert, wenn ich ihm auf dem Handy zeigte, dass wir auf dem richtigen Weg waren.

 

Es waren wundervolle Tage und Erlebnisse und wir haben uns noch besser kennengelernt. Darauf haben wir am Ende unserer Reise zufrieden mit einem Glas Champagner angestoßen, bevor es mit dem Zug nach Hause ging.

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Hat dieses Verhalten etwas mit dem Alter zu tun oder mit dem Wesen?

Nachdenklich haben mich unsere Erlebnisse gestimmt. In vielerlei Hinsicht ticken wir gleich und sind uns sehr ähnlich. Die beschriebenen Szenen hingegen, sind das genaue Gegenteil von meinem Wesen. Ich möchte alles wissen, erfahren, versuchen, lernen. Niemals würde ich auch nur für eine Sekunde in  Erwägung ziehen Montmartre zu verlassen ohne Sacré Coeur gesehen zu haben.

 

Nein, er war früher nicht so, oder? Er kam als junger Mann, bereits verheiratet und Vater von zwei Kindern 1969 nach Deutschland. In Zagreb hatte man ihn als Gastarbeiter rekrutiert zunächst als Baustellenarbeiter in Oberursel. Er war weder handwerklich interessiert, noch begabt. Es war ihm klar, dass das nur das Sprungbrett zu einem besseren Leben mit seiner Familie sein müsste.  Er hatte weiß Gott andere Sorgen, als die Terrasse der Galerie Lafayette oder Sacré Coeur.

 

Im Gegensatz zu seinen Landsleuten, freundete er sich sofort mit einem deutschen Kollegen an. „Du musst Deutsch lernen und den Führerschein machen,“ riet ihm der Kollege, der später zu einem großartigen Freund wurde. Gesagt, getan! Nur einmal kam er mit dem Zug an Weihnachten nach Zagreb. Das nächste Mal fuhr er mit einem VW Käfer vor. Ein Jahr später holte er uns nach, zwei Jahre später wechselte er von der Baustelle zu einem anderen Unternehmen, um später eine Führungsposition einzunehmen, da er hervorragend Deutsch gelernt hatte uns ich als Top-Verkäufer entpuppte.

 

Chancen, die sich ihm boten, hatte er ergriffen. Man könnte sich leicht dazu geneigt fühlen, das leicht zögerliche Verhalten meines Vaters in Paris auf sein Alter zu schieben.

Ein Déjà Vue aus meiner Zeit als Unternehmensberaterin

Ich fühle mich durch diese Erfahrung  erinnert an einige meiner Kollegen aus meiner Zeit in der Unternehmensberatung Anfang der 2000er. Sie waren damals erst Anfang oder Mitte 40 und bei weitem sturer und uneinsichtiger als mein Vater in Paris. Ich war seinerzeit die einzige Frau in der Geschäftsleitung. Während eines Projekts, hatte ich einem Gespräch mit einem Zentraleinkäufer im Handel eine Information entnommen, die mich sofort auf eine Idee zur Neukundengewinnung brachte. Es war nur ein Satz, der mir eine Vision eröffnete: „Im Zuge der gewaltigen Veränderungen in der Warengruppe X, erwarte ich Innovationen in der Warengruppe Y.“

 

Es wären drei Anschreiben gewesen und wir hatten nichts zu verlieren. Ich fragte meinen Kollegen, ob wir meine Idee gemeinsam angehen wollten. Er antwortete es würde keinen Sinn machen, da diese drei Unternehmen Monopolisten seien und es nicht nötig hätten. Wie er das wissen könne, ohne es versucht zu haben, fragte ich ihn. „Weil ich BWL studiert habe, da lernt man so etwas und weiß, dass dein Vorschlag keinen Sinn macht,“ war seine Antwort.  Ich hingegen hatte „nur“ Sprachen mit Schwerpunkt BWL studiert, das zählte für ihn nicht, obwohl ich  bereits mehrere Jahre Führungserfahrung in Marketing und Vertrieb nachzuweisen hatte.

 

Ich brannte für meine Idee und mein Bauchgefühl sagte mir, dass ich es unbedingt versuchen müsse. Seine Aussage hatte mich nur noch mehr motiviert. Meine Beharrlichkeit  wurde belohnt. Im Alleingang habe ich einen ansehnlichen Auftrag im hohen fünfstelligen Bereich geholt. Wegen seiner Weigerung mit mir zusammenzuarbeiten und drei Anschreiben auszusenden, ist dieser spannende Kunde leider nicht bei uns beiden gelandet, sondern bei mir allein.

 

Ich konnte es mir einfach nicht verkneifen erhobenen Hauptes, mit einem süffisanten Lächeln, auf meinen High Heels durch die Agentur zu stolzieren und dabei die Herren anzulächeln. An dem Eklat, der angesichts meines Erfolgs durch das ganze Unternehmen ging, erfreue ich mich heute noch.

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Selbst auferlegte Grenzen?

Wie viele Menschen schränken sich selbst ein? Was denkt ihr?

Wie oft wird unterschätzt, was sich Tolles hinter der nächsten Ecke verbergen könnte?

Wie häufig, ist man bereit seinen Kokon zu verlassen, um neues, unbekanntes Terrain zu betreten?

 

Fehlt manchen Menschen die Neugierde, die Bereitschaft die paar Meter mehr zu gehen, um Neues zu entdecken, Chancen zu ergreifen, auf seinen Bauch zu hören, es einfach zu wagen?

 

Ist es wirklich nur Mut, der fehlt? Oder ist es ein eingefahrenes Denken und die mangelnde Bereitschaft seinen Horizont zu erweitern?

 

Ist es gar Resignation oder mangelnde Vorstellungskraft? Oder ist es schlicht und ergreifend wenig Interesse? Ich habe keine Antworten auf diese Fragen.

 

Wie häufig nutzen wir die Möglichkeiten, die sich uns bieten, vollends aus? Ist die Sehnsucht nach außergewöhnlichen  Erlebnissen oder Erfolg nicht ausreichend ausgeprägt? Oder geben wir uns freiwillig mit weniger  zufrieden weil es ausreicht?

 

Wer kann schon sagen, was zu viel oder zu wenig ist? Chaque’un a son goût sagen die Franzosen und ich liebe diesen Spruch, weil er für die individuelle Freiheit steht, für Selbstbestimmung. Niemand hat das Recht zu urteilen, aber jeder die Möglichkeit mal beide Hände zu reichen.  

 

Meinen Vater trennte nur ein Aufstieg über maximal 100 Meter von Sacré Coeur und eine kurze Fahrt mit dem Fahrstuhl zur Dachterrasse der Galerie Lafayette. Hätte er diese Sehenswürdigkeiten nicht gesehen, wäre es bedauerlich gewesen, aber ich hätte seine Entscheidung respektieren müssen, hätte loslassen müssen. Es wäre nichts Dramatisches passiert.

 

Man kann niemand zu seinem Glück zwingen und es ist okay, wenn wir nicht alle gleich sind und das gleiche möchten. All diese Fragen gehen mir seit unserer Rückkehr durch den Kopf. Ich bin im Leben nicht nur Menschen begegnet, wie dem erwähnten Kollegen in der Unternehmensberatung. Im Gegenteil, es waren viel mehr Begegnungen, die mir Chancen gaben, mir die Augen öffneten,  mich ermutigten. Heute bin ich froh, wenn ich davon etwas weitergeben darf.

 

Aber man kann nicht mehr tun, als anzubieten, eventuell darf man bei sehr vertrauten und geliebten Menschen noch einen kleinen Stupser dazu geben. Ich habe jedoch nicht das Recht jemand Vorschriften zu machen oder zu verurteilen, auch dann nicht, wenn ich es besonders gut meine.  Chaque’un a son goût – jeder nach seinem Gusto – ist für mich eine schöne Lebensphilosophie.

 

Ich bin stolz auf Papa

Ich war sehr glücklich meinen Vater sanft zu seinen für ihn überraschenden Glücksmomenten navigiert zu haben. Wieder war es mein Bauchgefühl, das mir sagte, er würde sich freuen, es würde ihm gefallen. Das war möglich, weil er es letztendlich zugelassen hat. Ich bin stolz auf ihn, dass er die Größe hat sich zu bedanken und sich einzugestehen, dass er diese Erlebnisse fast versäumt hätte. Selbst auf der Rückreise im Zug haben wir noch gemeinsam darüber gelacht.  Wir haben in diesen Tagen sehr viel genossen und viel voneinander gelernt.

Danke 🙏🏼

Ich freue mich, dass du meine Geschichte gelesen hast und danke dir dafür. 


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